ALLE HUNDE STERBEN
by Cemile Sahin
For Gallery Weekend Berlin, the artist Cemile Sahin provides excerpts (in German) from her latest novel ALLE HUNDE STERBEN, published in 2020 by Aufbau Verlag Berlin. In nine episodes, Sahin tells the story of nine people who are exiled to a high-rise building in western Turkey. All of them have experienced torture, violence and abduction by units of the Turkish army and police. As they tell their stories, they reveal the systemic violence that underlies all their experiences. ALLE HUNDE STERBEN is a chronicle of a country marked by militarism and nationalism – told with clear, straightforward, and furious conviction.
In Berlin, Esther Schipper is presenting It Would Have Taught Me Wisdom, Cemile Sahin’s first presentation with the gallery until October 30. On October 23, 2021 the artist gave a reading from her book at the Frankfurt Bookfair.
Wir sehen ein Hochhaus im Westen der Türkei.
Das Hochhaus hat 17 Stockwerke. Auf jeder
Etage sind sechs Wohnungen. Es gibt einen
Aufzug. Keinen Dachboden, aber einen Keller.
Wir stehen im Treppenhaus. Es ist dunkel.
Über den linken Bildrand betreten Uniformierte
das Hochhaus. Sie stürmen die Treppen hinauf.
EPISODE EINS:
NECLA
Necla wohnt im Erdgeschoss. Necla hat
pechschwarzes Haar. Necla hat einen Hund.
Necla möchte hier nicht bleiben.
Ich habe immer alles erzählt. Ich berichte jeden Tag vom
Alltag. Ich habe von den Dingen gesprochen, die ich
kenne. Vielleicht nicht ganz genau von denen, die ich
gesehen habe, aber dennoch habe ich immer die Wahrheit
gesagt. Ich stehe oft in meiner Küche, hinter dem Tisch,
hinter dem Vorhang. Die Dinge, die ich sehe, passieren
meist ausschließlich vor meiner Tür, auf der Straße. Es ist
fast wie ein Film. Aber ich kann weder vor- noch zurückspulen
oder auf Pause drücken. Ich wohne im Erdgeschoss
und lebe allein. Ich heiße Necla und ich trage über
meinen Socken, die sind sehr warm, noch ein zweites Paar
Socken, die sind aus Wolle und besonders dick. Die trage
ich, damit ich mich wie ein Spitzel in meiner Wohnung
bewegen kann. Ich lebe allein und halte beim Laufen die
Luft an. Wer könnte mich hören? Die Nachbarn könnten
mich hören. Wer von ihnen hat mich bereits gehört? Alle
von ihnen. Wenn sie mich hören, dann passiert immer
dasselbe: Sie denken an mich, das erinnert sie an alles, was
ich bisher getan habe, und dann hassen sie mich. Sie hassen
mich, denn ich füge ihnen Schaden zu. Was habe ich
getan? Ich tue etwas, das ich schon seit einigen Jahren tue.
Ich verrate meine eigenen Leute.
[…]
EPISODE DREI:
NURTEN
Nurten wohnt im 7. Stock. Nurten ist nicht
wütend, Nurten ist besonnen. Nurten denkt
an die Zukunft. Nurten möchte hier nicht
bleiben.
Ich komme aus einem kleinen Dorf. Wirklich nicht sehr
groß. Jeder kennt dort jeden. Dort bin ich geboren. Meine
Mutter auch. Meine Schwester nicht. Wir sind einfache
Menschen. Wir hatten ein Stück Land. Es war nicht groß,
aber genug für uns. Dort stand unser Haus. Neben dem
Haus war ein Stall, und in dem Stall waren unsere Tiere.
Schafe, Hühner, Pferde und Esel. Der andere Teil unserer
Familie lebte auf der anderen Seite der Grenze. Die Grenze
zwischen hier und dort ist 367 Kilometer lang.
Die Soldaten sagen: Das Grenzgebiet wird von den Terroristen
als Rückzugsort genutzt.
Mein Name ist Nurten, und ich bin fünfundfünfzig Jahre
alt. Ich habe vier Kinder. Eins ist tot, und drei sind im
Gefängnis. Wir haben nichts verbrochen. Das müssen Sie
mir glauben, auch wenn Ihnen etwas anderes erzählt wird.
Ich habe zu meinem Mann, Hasso heißt er, gesagt:
Ich habe vier Kinder, aber alle sind weg.
Hasso sagte: Ich weiß.
Meine drei Söhne sind im ganzen Land verteilt. Sie sitzen
in verschiedenen Gefängnissen. Ich kann sie nicht nacheinander
besuchen. Ich kann sie auch nicht alle gleichzeitig
sehen. Ich muss mich entscheiden, wann ich wen besuche.
Agit ist im Norden. Erdem ist im Westen. Mahir
sitzt im Süden. Aber Agit und Mahir habe ich seit Jahren
nicht gesehen. Unsere Besuchsanträge wurden abgelehnt.
Ich habe versucht, herauszufinden, woran das liegt. Aber
ich bekam keine Antwort. Stattdessen wurde ich verhaftet
und saß selber einige Monate im Gefängnis. Mir war das
egal. Ich muss auch sagen, verstehen Sie das nicht falsch,
aber ich habe gar keine Lust über irgendetwas zu reden.
[…]
EPISODE FÜNF:
SARA
Sara wohnt im 7. Stock. Sara hat keine
Angst vor Männern. Sara liebt ihre Freundin
Hêlîn. Sara möchte hier nicht bleiben.
WIR HABEN UNS STEINE IN DIE STIEFEL GELEGT
DAMIT WIR ANDERS LAUFEN ALS SONST
DENN EIN SCHWERER GANG
KANN NIEMANDEN VERRATEN
DIE HÄNDE HABEN WIR GEGEN STEINE GEHAUEN
DAMIT SIE ANSCHWELLEN UND
NICHT MEHR AUSSEHEN
WIE HÄNDE DIE UNS BETRÜGEN
HÄNDE KÖNNEN EINEN IMMER ENTLARVEN
UND UNSERE HÄNDE HÄTTEN VERRATEN
DASS WIR KEINE MÄNNER SIND
SONDERN
WIR SIND FRAUEN
VERKLEIDET ALS MÄNNER
DIE SOLDATEN SPIELEN
ICH BESORGE UNS EINE WAFFE
DIE KANN MAN LEIHEN
KAUFEN ODER KLAUEN
BIN GUT DARIN ABER
WER MICH ERKENNT
ERKENNT SOFORT WAS FEHLT
ICH HABE TROCKENE HÄNDE
DRECKIGE HÄNDE
WIE EIN PANZER UND EIN AUTO
EIN PANZER HAT TARNFARBEN
ABER ICH BIN VOLLER FLECKEN
GRÜN
BLAU
LILA
WEIL ICH DRAUSSEN IM GEBÜSCH
UNTER FREIEM HIMMEL SCHLAFE
UND ICH SCHLAFE DRAUSSEN IM GEBÜSCH
WEIL ICH MICH VERSTECKE
DAS TUE ICH
WEIL ICH ABGEHAUEN BIN
UND ICH SAGE IHNEN
HÖREN SIE GANZ GENAU HIN
MAN KANN NICHT ALLES RÜCKGÄNGIG MACHEN:
ABER
ICH WERDE ZURÜCKKEHREN AN DEN ORT
WIR WERDEN WIEDER NACH HAUSE KOMMEN
OHNE DASS UNS JEMAND AUFHÄLT
ICH HEISSE SARA
MEINE FREUNDIN HEISST HELIN
ICH WERDE JEDEN KOMMANDANTEN
JEDEN SOLDATEN SPITZEL POLIZISTEN
WIE NIEDRIG SEIN RANG AUCH SEIN MAG
GOTT VERFLUCHE SIE
ICH GLAUBE NICHT EINMAL AN GOTT
AN WAS GLAUBE ICH
NICHT AN DIESES LAND
[…]
Cemile Sahin’s artistic practice operates between film, photography, sculpture, and literature. Freely deploying different media, without privileging one or the other, her work embodies today’s synchronicity of image- and text-based communications. Integrating images into her books and text in her image-world, Sahin (*1990 in Wiesbaden, Germany) moves with extraordinary agility between words and pictures, between still and moving image, between text as form, sign, and symbol. Deliberately elliptical and fragmentary, her work’s narrative strategies draw on an episodic format of narration established by contemporary TV series and internet videos. In her practice, Sahin acknowledges the subjectiveness and codedness of all storytelling, and its instrumentalization by the media. Her works find a giddy rhythm in the knowing use of the dynamics of these processes, sweeping away her spectators to unexpected, and sometimes uncomfortable realizations, among them that the writing of history is, and always has been, determined by constantly shifting perspectives. She lives and works in Berlin.
Her debut novel TAXI was published in 2019, followed by her book ALLE HUNDE STERBEN in 2020, both of which are integral components of her artistic practice.